Unwirksamkeit einer Kündigung wegen unterlassener Massenentlassungsanzeige

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BAG, Beschluss vom 11.05.2023, 6 AZR 157/22 (A)

Das Bundesarbeitsgericht muss in einer Sache über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung entscheiden. Wesentliche Frage in dieser Sache ist, ob bereits eine unterlassene Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. In der Vergangenheit haben die Gerichte regelmäßig entschieden, dass eine Kündigung bereits dann unwirksam ist, wenn die Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur nicht ordnungsgemäß erfolgt ist. Der 6. Senat hat dieses Verfahren nun ausgesetzt, um eine Entscheidung des EuGH zu dieser Frage abzuwarten.

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Bei der Arbeitgeberin waren im Oktober 2020 noch 22 Mitarbeiter beschäftigt. Über das Vermögen der Arbeitgeberin wurde am 01.12.2020 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die im Oktober 2020 noch bestehenden 22 Arbeitsverhältnisse wurden durch Kündigungen und Aufhebungsverträge beendet, die zwischen dem 12.11.2020 und dem 29.12.2020 zugingen bzw. abgeschlossen wurden. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 02.12.2020 zum 31.03.2021. Er erstattete keine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG. Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Er vertritt die Auffassung, die Kündigung sei unwirksam, weil es an der erforderlichen Massenentlassungsanzeige durch den Beklagten fehle. Vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht hatte die Klage Erfolg. Der 6. Senat hat das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen im Revisionsverfahren – 6 AZR 155/21 (A) – (beim Gerichtshof unter dem Aktenzeichen – C-134/22 – anhängig) in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO ausgesetzt.

Die Kündigung verstößt gegen § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG. Der Arbeitgeber bzw. der Insolvenzverwalter hätten eine Massenentlassungsanzeige abgeben müssen. Hierzu ist der Arbeitgeber verpflichtet, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Beide Schwellenwerte waren hier überschritten. Für die Ermittlung der für die Betriebsgröße maßgeblichen Beschäftigtenzahl kommt es nicht auf die Anzahl der an einem Stichtag – z.B. am Tag der Entlassung bzw. der Eröffnung des Insolvenzverfahrens – (noch) vorhandenen Beschäftigten an. Wird der Betrieb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zeitnah stillgelegt, bestimmt sich die Betriebsgröße nach den betrieblichen Umständen, die vor der Eröffnung charakteristisch waren. Ob die Klage wegen unterlassener Massenentlassungsanzeige allerdings tatsächlich begründet ist, kann der 6. Senat nicht unabhängig von der zu erwartenden Antwort des Gerichtshofs auf die im Revisionsverfahren – 6 AZR 155/21 (A) – gestellte Vorlagefrage entscheiden. Vor dem Hintergrund des in dieser Rechtssache – C-134/22 – am 30. März 2023 verkündeten Schlussantrags des Generalanwalts ist derzeit unklar, ob eine in Verkennung der personellen Betriebsstärke unterlassene Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.

Die Entscheidung des EuGH und die weiteren Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bleiben also abzuwarten.