BAG, Urteil vom 27.03.2025, 8 AZR 123/24
Arbeitgeber haben vor einer Stellenbesetzung nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX frühzeitig Verbindung mit der Bundesagentur für Arbeit aufzunehmen, um zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitsuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Dies umfasst die Pflicht zur ausdrücklichen Erteilung eines Vermittlungsauftrags unter Berücksichtigung des von der Bundesagentur für Arbeit vorgegebenen organisatorischen Ablaufs. Das bloße Einstellen einer Suchanzeige auf dem Vermittlungsportal der Bundesagentur für Arbeit (Jobbörse) ist nicht ausreichend. Fehlt ist an einem solchen Vermittlungsauftrag liegt hierin ein Indiz für die Benachteiligung eines schwerbehinderten Bewerbers.
Die Parteien streiten in diesem Verfahren über einen Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Die Beklagte schrieb im Internet eine Stelle als „Scrum Master / Agile Coach“ aus. Der Kläger bewarb sich auf diese Stelle und wies dabei auf seine Schwerbehinderung hin. Die Bewerbung ging am 24.08.2021 um 12:30 Uhr bei der Beklagten in elektronischer Form ein. Die Beklagte entschied sich für einen Mitbewerber und ließ diesem per E-Mail vom 24.08.2021 um 15:39 Uhr den Entwurf eines Arbeitsvertrags zukommen. Der von beiden Parteien unterzeichnete Arbeitsvertrag ging der Beklagten nach Rücksendung durch den Mitbewerber am 03.09.2021 zu. Bis zu diesem Tag war die Stellenausschreibung im Internet veröffentlicht. Ebenfalls an diesem Tag wurde dem Kläger mitgeteilt, dass seine Bewerbung keine Berücksichtigung gefunden habe. Der Kläger macht (unter Einhaltung der Fristen) eine Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG geltend. Sämtliche Instanzen haben einen Anspruch des Klägers abgewiesen.
Die Beklagte hat den Kläger nicht wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Der Kläger hat hier zwar ein hinreichendes Indiz i.S.v. § 22 AGG vorgetragen, das eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung vermuten lässt. Denn die Beklagte hat mit der Bundesagentur für Arbeit nicht ordnungsgemäß i.S.v. § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX Verbindung aufgenommen. Arbeitgeber haben vor einer Stellenbesetzung nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit aufzunehmen. Dies umfasst die Pflicht zur ausdrücklichen Erteilung eines Vermittlungsauftrags unter Berücksichtigung des von der Agentur für Arbeit vorgegebenen organisatorischen Ablaufs. Das bloße Einstellen einer Suchanzeige auf dem Vermittlungsportal der Bundesagentur für Arbeit (Jobbörse) ist nicht ausreichend. Nach § 165 Satz 1 SGB IX melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit u.a. frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze. Diesbezüglich ist in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anerkannt, dass eine ordnungsgemäße Meldung die Erteilung eines Vermittlungsauftrags an die bei der Bundesagentur für Arbeit eingerichteten besonderen Stellen (§ 187 Abs. 4 SGB IX) voraussetzt und die bloße Veröffentlichung eines Stellenangebots über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit nicht ausreicht, weil dies nicht deren Vermittlungsservice auslöst. Diese Rechtsprechung ist auf § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX zu übertragen, auch wenn der Gesetzgeber nur den öffentlichen Arbeitgebern mit § 165 SGB IX eine besondere Verantwortung und eine Vorbildfunktion übertragen hat (vgl. BAG, Urteil vom 25.01.2024, 8 AZR 318/22). Hinsichtlich des Zwecks der Einschaltung der Bundesagentur für Arbeit besteht zwischen § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX und § 165 Satz 1 SGB IX kein Unterschied. Beide Normen dienen der Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen. Die Beklagte hat die daraus folgende Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung jedoch widerlegt. Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass die Stellenbesetzung zum Zeitpunkt der Bewerbung der Beklagten bereits abgeschlossen war. Es ist hier nicht auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit dem erfolgreichen Bewerber abzustellen, sondern auf die getroffene Einstellungsentscheidung zu dessen Gunsten.
Diese Entscheidung fügt sich in weitere aktuelle Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts ein, in denen das Gericht mehrfach folgenden Grundsatz bestätigt hat: Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber begründen demnach regelmäßig eine Vermutung der Benachteiligung, wenn sie gegen Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen verstoßen. Die Pflicht zum Vermittlungsauftrag nach SGB IX ist gerade eine solche Pflicht.