Mit unserem Sonderrundschreiben Nr. 17 / 2022 vom 19.09.2022 hatten wir Sie bereits über die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.09.2022 (Az.: 1 ABR 22/21) informiert, in der das BAG eine unmittelbare Verpflichtung der Arbeitgeber zur Zeiterfassung festgestellt hat. Nachdem zum damaligen Zeitpunkt nur vorliegenden Tenor der Entscheidung seien die Arbeitgeber verpflichtet, den Beginn und das Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden ihrer Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Wie das BAG diese Entscheidung begründet, ist bisher offengeblieben. Nunmehr liegt jedoch die vollständige Entscheidung des BAG mit der Begründung vor.
Den vollständigen Beschluss des BAG können Sie hier herunterladen.
a) Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Die vom BAG zu entscheidende Frage war, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung im Betrieb nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zusteht. In dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall beschloss der Arbeitgeber, nach Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung, kein elektronisches Zeiterfassungssystem im Betrieb einzuführen. Daraufhin setzte das Arbeitsgericht auf Antrag des Betriebsrates eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen die Zuständigkeit der Einigungsstelle gerügt hatten, leitete der Betriebsrat ein Beschlussverfahren ein. In diesem begehrte er die Feststellung, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht. Das Arbeitsgericht hatte den Antrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Beschwerde des Betriebsrats stattgegeben.
Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hatte vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Nach der Entscheidung steht dem Betriebsrat kein Initiativrecht auf Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zu. Für diese Frage entscheidend war, ob die betreffende Angelegenheit gesetzlich geregelt ist, da in diesem Fall kein Spielraum für eine Mitbestimmung verbleibt. Das hat das Bundesarbeitsgericht hier angenommen. Vorliegend sei der Arbeitgeber schon kraft Gesetzes verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden. Nach dem Bundesarbeitsgericht ergebe sich diese Verpflichtung zwar nicht unmittelbar aus Artikel 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und auch nicht aus § 16 Abs. 2 Satz 1 Arbeitszeitgesetz. Schon der eindeutige Wortlaut, dass der Arbeitgeber die über die werktägliche Arbeitszeit nach § 3 Satz 1 Arbeitszeitgesetz „hinausgehende“ Arbeitszeit aufzuzeichnen habe, verhindere laut dem Bundesarbeitsgericht eine unionsrechtkonforme Auslegung dieser Norm.
Stattdessen folgert das Bundesarbeitsgericht eine Pflicht zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz. Nach dieser Rahmenvorschrift hat der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 Arbeitsschutzgesetz unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine geeignete Organisation zu sorgen und erforderliche Mittel bereitzustellen.
Dies beinhalte bei unionsrechtskonformer Auslegung auch ein System zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit. Hierzu gehören Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden. Das Bundesarbeitsgericht verweist in seiner Begründung insbesondere auf den vermeintlichen Willen des Gesetzgebers. § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz diene der nationalen Umsetzung der Vorschrift des Artikels 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG (Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie), so dass ihr derselbe Bedeutungsgehalt zukommen solle. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes beinhaltet die Vorschrift der Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie die Verpflichtung eines Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems für die Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten (EuGH, 14. Mai 2019, C-55/18).
Hinsichtlich der Begründung sind hier insbesondere auch die Ausführungen zum Verhältnis des Arbeitsschutzgesetzes zum Arbeitszeitgesetz entscheidend. Im Ergebnis sieht das Bundesarbeitsgericht das Arbeitszeitgesetz als spezieller an, sieht allerdings kein Exklusivitätsverhältnis. Daher könne die europarechtskonforme Auslegung der allgemeinen Vorschrift aus dem Arbeitsschutzgesetz auch zu einer Verpflichtung führen, die über den Wortlaut der Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes hinausgeht.
Des Weiteren stellt das Bundesarbeitsgericht klar, dass sich die Verpflichtung auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG beziehe. Offen bleibt, ob trotz der grundsätzlichen Herausnahme der leitenden Angestellten aus dem Arbeitszeitgesetz gemäß § 18 Abs. 1 ArbZG diese nicht im Wege einer unionskonformen Auslegung des § 3 ArbSchG zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind.
Der Senat weist weiter darauf hin, dass es Spielräume bei der Ausgestaltung der Arbeitszeitdokumentation gebe. Diese bestünden jedenfalls so lange, bis der Gesetzgeber konkretisierende Regelungen getroffen hat. Die Arbeitszeiterfassung müsse nicht zwingend elektronisch erfolgen. Je nach Tätigkeit und Unternehmen könnten Aufzeichnungen auch in Papierform genügen. Zudem sei auch nicht ausgeschlossen, dass die Aufzeichnungspflicht an die Arbeitnehmer delegiert werde. In Betrieben mit Betriebsrat könnten die Betriebsparteien über die Ausgestaltung entsprechende Regelungen treffen. Ein isoliertes Initiativrecht in Bezug auf die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung stehe dem Betriebsrat allerdings nicht zu.
b) Erste Bewertung
Bisher ging die vorherrschende Ansicht immer davon aus, dass die aktuelle Gesetzeslage gerade keine umfassende Aufzeichnung der Arbeitspflicht vorsieht. Daran ist aus Sicht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) festzuhalten. Der Zusammenfassung einer aktuellen Stellungnahme der BDA ist zu entnehmen, dass die vom Bundesarbeitsgericht festgestellte Verpflichtung systematisch alles andere als zwingend und wenig überzeugend sei. Zudem solle das Arbeitszeitgesetz als spezialgesetzliche Regelung die Anwendbarkeit des Arbeitsschutzgesetzes ausschließen. Die BDA greift in einem aktuellen Positionspapier auf, wie Arbeitszeiterfassung praxistauglich gestaltet werden sollte.
Das Handout der BDA „Kein Zurück zur Stechuhr mit neuen bürokratischen Pflichten, Arbeitszeiterfassung praxistauglich gestalten“ können Sie hier herunterladen.
Zusammenfassend lässt sich für die Praxis festhalten, dass der Beschluss die Aufzeichnungsverpflichtung für die Fälle, in denen gemäß dem Arbeitszeitgesetz nur die über werktäglich 8 Stunden hinausgehenden Arbeitszeiten aufgezeichnet werden müssen, erweitert.
Von der Erfassungspflicht sind nach derzeit überwiegender Ansicht leitende Angestellte i. S. v. § 5 BetrVG ausgeschlossen, also insbesondere Führungskräfte, die zur selbständigen Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern berechtigt sind oder eine nicht unbedeutende Prokura haben.
Hinsichtlich der Ausgestaltung der Erfassung macht das Bundesarbeitsgericht keine Vorgaben. Sie bleibt daher in Papierform oder elektronisch möglich und kann auf die Mitarbeitenden delegiert werden.
Verstöße gegen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, aus dem das Bundesarbeitsgericht die Erfassungspflicht herleitet, sind derzeit nicht unmittelbar bußgeldbewährt und stellen keine Ordnungswidrigkeit dar. Dafür müsste zunächst eine behördliche Anordnung zur Arbeitsfassung erfolgen, der nicht Folge geleistet wird.
Vor diesem Hintergrund müssen Arbeitgeber, die die erweiterten Anforderungen noch nicht erfüllen und keiner Aufzeichnungspflicht, wie beispielsweise im Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes, unterliegen, nicht zwangsläufig vorschnell handeln. Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber zeitnah tätig wird, um die Zeiterfassungspflicht im Arbeitszeitgesetz zu erweitern.
Insoweit erscheint es aber zumindest schon jetzt geboten, umfassend zu prüfen, wie und in welchem Umfang Arbeitszeit bislang erfasst wird und ob Anpassungen vorzunehmen sind.
Über die weitere Entwicklung werden wir Sie selbstverständlich auch weiterhin informieren.