Das Präventionsverfahren muss bereits in der Probezeit durchgeführt werden

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LAG Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24

Die Pflicht des Arbeitgebers aus § 167 Abs. 1 SGB IX bei aufkommenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen ein Präventionsverfahren durchzuführen, ist nicht auf den Zeitraum nach Ablauf der Wartezeit aus § 1 Abs. 1 KSchG beschränkt. Die Pflicht besteht also auch schon in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses.

Die Parteien streiten in diesem Verfahren über die Wirksamkeit einer Probezeitkündigung, die die Arbeitgeberin einem schwerbehinderten Arbeitnehmer gegenüber ausgesprochen hat und dabei insbesondere über die Frage, ob die Arbeitgeberin vor Ausspruch dieser Kündigung ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX hätte durchführen müssen. Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB vom 90 anerkannt und bei der Beklagten seit 01.01.2023 als „Beschäftigter im Bauhof“ tätig gewesen. Die Einarbeitung verlief nicht erfolgreich. Nach Anhörung des Personalrats, der Schwerbehindertenvertretung und der Gleichstellungsbeauftragten zu einer beabsichtigten „Kündigung in der Probezeit“, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis innerhalb der Probezeit fristgerecht zum 31.07.2023. Ihrer Pflicht aus § 173 Abs. 4 SGB IX folgend zeigte die Beklagte diese Kündigung fristgemäß dem Inklusionsamt an. Ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX hatte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung nicht durchgeführt. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage daher stattgegeben.

Im Berufungsverfahren bestätigt das LAG Köln zunächst, dass die Pflicht des Arbeitgebers aus § 167 Abs. 1 SGB IX bei aufkommenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen ein Präventionsverfahren durchzuführen, nicht auf den Zeitraum nach Ablauf der Wartezeit aus § 1 Abs. 1 KSchG beschränkt ist. Wird das Präventionsverfahren nicht durchgeführt, obwohl die Arbeitgeberin Schwierigkeiten im Sinne des § 167 Abs. 1 SGB IX festgestellt hat und wird danach eine Kündigung ausgesprochen, so stellt die Nichtdurchführung des Präventionsverfahrens ein vermutungsbegründendes Indiz im Sinne des § 22 AGG dafür dar, das die Arbeitgeberin den schwerbehinderten Menschen durch den Ausspruch der Kündigung wegen seiner Behinderung im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX benachteiligt hat. Die so entstandene Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Die Arbeitgeberin muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere Gründe als die hier vorliegende Schwerbehinderung zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (BAG, Urteil vom 14.06.2023, 8 AZR 136/22 -). Das ist ihr in diesem Fall gelungen. Wegen der spezifischen Probleme, ein Präventionsverfahren vor Ablauf der „Probezeit“ zum Abschluss zu bringen, gilt für die Widerlegung der Vermutung ein abgesenktes Maß der Darlegungs- und Beweislast. Im hier konkret vorliegenden Fall hat die Beklagte den Kläger in Kenntnis eines GdB von 90 eingestellt. Das zeigt alles andere als eine Voreingenommenheit gegenüber schwerbehinderten Menschen. Die Beklagte hat die Kündigung nicht ausdrücklich wegen der Behinderung ausgesprochen. Der Beklagten waren die Hintergründe der Schwerbehinderung nicht bekannt, insbesondere nicht die Hirnfunktionsstörung des Klägers.