Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat gemeinsam mit dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) ein Eckpunktepapier mit Forderungen zur Änderung des Mindestlohngesetzes und zur Sozialpartnerschaft veröffentlicht. Dieses können Sie hier herunterladen.
Das Papier sieht erhebliche Veränderungen des Mindestlohngesetzes und weitere Eingriffe in das Arbeitnehmerentsendegesetz und das Tarifvertragsgesetz vor:
Gesetzlicher Mindestlohn
Der gesetzliche Mindestlohn soll im Jahr 2022 auf mindestens 12 Euro steigen. Er soll in Richtung eines „Living Wage“ fortentwickelt werden. Dazu sieht das Papier vor, den Katalog in § 9 Absatz 2 Mindestlohngesetz (MiLoG) zu ergänzen, so dass die Kommission auch den Gesichtspunkt der Armutsgefährdung maßgeblich berücksichtigen muss. Von einer Armutsgefährdung soll regelmäßig ausgegangen werden, wenn ein in Vollzeitarbeit erzieltes Arbeitsentgelt unterhalb der Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns bleibt.
Zulagen und Zuschläge sollen grundsätzlich nicht mehr auf den Mindestlohn angerechnet wer-den dürfen und die Ausnahmen für Langzeitarbeitslose und für minderjährige Arbeitnehmer sollen abgeschafft werden.
Für die Aufzeichnungspflichten soll der Beginn der täglichen Arbeitszeit unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufgezeichnet werden. Diese sind den Arbeitnehmern zur Verfügung zu stellen.
Tarifrecht
Öffentliche Aufträge des Bundes, der Länder und der Kommunen sollen nur an Unternehmen vergeben werden, die ihren Arbeitnehmern die durch Rechtsverordnung festgesetzten tarifvertraglichen Entlohnungsbedingungen gewähren. Dazu soll ein Tariftreueregister geschaffen werden.
Das BMAS soll auf Antrag einer Tarifvertragspartei durch Rechtsverordnung bestimmen, dass die von ihr vereinbarten Entlohnungsbedingungen bei der Ausführung öffentlicher Aufträge verbindlich einzuhalten sind. Für die Bereiche, in denen keine Tarifverträge bestehen, soll ein für öffentliche Aufträge bundesweit geltender Vergabemindestlohn in Höhe von 60 Prozent des Medianlohns eingeführt werden, der jährlich per Rechtsverordnung des BMAS festgesetzt wird. Auftragnehmer sollen Beginn, Ende und Dauer der täglich für den Auftrag verwendeten Arbeitszeit ihrer Beschäftigten (einschließlich eingesetzter Leiharbeitnehmer) elektronisch dokumentieren.
Die Vergabestelle soll Vertragsstrafen vereinbaren und kann weitere Sanktionen (außerordentliches Kündigungsrecht oder Ausschluss von zukünftigen Vergaben) aussprechen. Diese Sanktionen sollen auch eingreifen, wenn ein vom Auftragnehmer eingeschaltetes Nachunternehmen die maßgeblichen Entlohnungsbedingungen nicht gewährt. Der Auftragnehmer soll gegenüber der Vergabestelle nachweisen müssen, dass von ihm eingesetzte Nachunternehmen die in der Rechtsverordnung geregelten Arbeitsbedingungen einhalten.
Künftig soll in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens Voraussetzung für den Abschluss von Versorgungsverträgen sein, dass der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer nach einem einschlägigen Tarifvertrag entlohnt.
Tarifgebundene Unternehmen sollen durch eine Regelung im Nachweisgesetz von bestimmten Nachweispflichten (Entgelt, Arbeitszeit, Urlaub und Kündigungsfristen) ausgenommen werden. Nicht tarifgebundene Arbeitnehmer sollen die von ihnen angewandten tarifvertraglichen Regelungen benennen und abdrucken oder eine Abschrift beifügen. Arbeitgeber sollen mitteilen, ob und in welcher Form sie Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sind.
Abweichungen von tarifdispositivem Gesetzesrecht sollen grundsätzlich nur noch mittels Tarifverträgen für Arbeitgeber möglich sein, die im Sinne des § 3 Absatz 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) tarifgebunden sind.
Das BMAS will einen Rahmen für ein „Sozialpartner-Gütesiegel“ schaffen, das Tarifbindung für Verbraucher sichtbar macht. Die Ausgestaltung des Gütesiegels sowie die Vergabemodalitäten sollen von den Sozialpartnern festgelegt werden. Auch Aspekte wie betriebliche Mitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung oder die Arbeitsbedingungen bei Werkvertragsunternehmen sollen branchenspezifisch Berücksichtigung finden können.
Im TVG soll eine Regelung geschaffen werden, die Arbeitnehmervereinigungen zur Nutzung elektronischer Kommunikationssysteme im Betrieb berechtigt. Das von der Rechtsprechung entwickelte physische Zugangsrecht zum Betrieb soll kodifiziert werden.
In einer ersten Bewertung stellt sich bereits die grundsätzliche Frage, ob das BMAS und BMF die arbeitsrechtlichen Vorstelllungen der SPD zum Gegenstand ministerieller Papiere machen kann.
Das BMAS hält selbst fest, dass sich die Anpassung des Mindestlohns durch eine Kommission der Sozialpartner bewährt hat. Daher besteht auch kein Anlass für politische Einmischungen in die Entscheidungsfindung der Mindestlohnkommission und zu einer Beschädigung der Tarifautonomie.
Eine außerordentliche Anhebung des Mindestlohns auf 12 € zu Beginn des Jahres 2022 würde vor allem in viele regionale Branchentarifverträge eingreifen. Über 180 tarifliche Lohngruppen wären obsolet. Dies steht im kompletten Widerspruch zu den politischen Forderungen nach einer Stärkung der Tarifbindung. Eine Mindestlohngrenze bei 60 Prozent des mittleren Ein-kommens aller Vollzeitbeschäftigten würde den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte kurzer-hand eliminieren.
Die Abschaffung der Ausnahmen für Langzeitarbeitslose läuft dem Ziel zuwider, diese Menschen erfolgreich am Arbeitsmarkt zu vermitteln. Für Langzeitarbeitslose dürfen gerade an-gesichts der Corona-Krise und deren Folgen keine weiteren Hürden zum Arbeitsmarktzugang errichtet werden.
Ein Ausschluss der Anrechnung von Zulagen und Zuschlägen auf den gesetzlichen Mindest-lohn widerspricht der inzwischen langjährigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das in den vergangenen Jahren eine differenzierte Systematik entwickelt hat, welche Zulagen anrechenbar sind und welche nicht.
Die Verpflichtung zu einer elektronischen Arbeitszeitaufzeichnung entspricht nicht der Realität in vielen Betrieben und belastet Unternehmen. Sie führen zurück in die Zeiten der Stechuhr.
Die Vorschläge zur Tarifbindung stellen einen Eingriff in Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie dar und werden diese schwächen. Das gilt sowohl für ein Bundestariftreuegesetz wie für einen bundesweit geltenden Vergabemindestlohn.
Die Regionalisierung des Arbeitnehmerentsendegesetzes oder ein „Sozialpartnergütesiegel“ sind mit den strukturellen Vorgaben von Art. 9 Absatz 3 GG nicht zu vereinbaren.